Eine Reise, die mich zu Hause begriff

Damit eins von vorneherein klar ist: Die Idee diese Insel zu bereisen hatte nicht ich.
Shannon, Irland. Im Mai 1989. Ein grauer Tag, es regnete, was sollte es sonst tun in diesem Irland? Nach all den tollen Reisen in den vergangen Jahren nach Kalifornien, Norwegen, Griechenland und Island, fragte ich mich, was soll ich hier?

Rastlos reisten meine Frau und ich in einem Mietauto rund um die Insel. Was ich sah, war nicht die Welt, die ich sehen wollte. Irland war ein Land, das sich gefühlt vom vorigen Jahrhundert noch nicht gelöst hatte. Auf den Felder Ochsengespanne. Auf den Strassen kaum Verkehr, dafür Esels-Karren. Dunkle Dörfer die im Torf-Qualm zu ersticken drohten. Auf dem Land traf man die Männer in den Public Pubs an – getrennt von den Frauen, die ihren Drink in den Lounges nehmen durften. Sonntags hatten alle Tankstellen geschlossen. Dublin? Eine graue Stadt mit dem Charme eines Provinznests. Die immer grünen Landschaften rauschten an den Fenstern des Mietwagens vorbei. Und die Musikkneipen, die Pubs? Die schwarze „Glungge“ jedenfalls, welche man hier als Bier ausschenkte, machte alles nicht wirklich besser.

Agglomeration Zürich. November 1989 – die Reise nach Irland war vergessen. Dienstreise, Stau und dazu Schneeregen. Plötzlich ein Bild in meinem Kopf! Ein aufgeklarter Himmel lässt die für den Südwesten Irlands so typischen sanften, grünen bis zum blauen Meer hin abfallenden Hügel in diesem besonderen Glanz erscheinen. „Was soll das?“, knurrte ich vor mich hin. Unter dieses Bild mischte sich ein Gefühl von Sehnsucht.

Diese Reise nach Irland ging mir in den folgenden Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Ich fing an Irland zu begreifen, aber auch mich. Ich war an einem Ort gewesen, wo ich nicht bereit war zu sein. Weil ich an einem anderen Ort sein wollte? Dabei verpasste ich die Schönheit des Moments. Hatte meine schwammige Erwartungshaltung aufgrund meiner Engstirnigkeit mich dieser Reise verschlossen? Verschliesse ich mit dieser Haltung nicht sogar meiner ganzen, eigenen Lebensreise?

Rindermarkt, Niederdorf, Zürich, Dezember 1989. Alles schon weihnachtlich. Ich stand im Travel Book Shop, blätterte durch ein Buch über die Neu-England-Staaten. Dabei fiel mein Blick auf das Büchergestell mit den Reisebüchern „Irland“. Unten lag ein kleines Büchlein auf: „Irisches Tagebuch“ von Heinrich Böll. Warum auch immer, ich kaufte dieses Buch. Setzte mich in das nächste Café, fing an zu lesen. Und staunte was der Autor zu Beginn des Buchs schrieb:
““Es gibt dieses Irland: wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.” (Heinrich Böll)

In der Nähe von Baltimore, am River Ilen. Irland. 28 Jahre später. Es ist später Nachmittag. Das Licht kündigt wieder einer dieser unglaublichen Sonnenuntergänge über dem Fluss an. Später wird alles in Dunkelheit versinken, kurz durchbrochen vom sich drehenden Lichtstrahl des entfernten Leuchtturmes. Dann werde ich mich nochmals in die Conservatory hinter das Notebook setzen, diesen schwierigen Post zum „Projekt 360: Um die Welt, zu Dir selbst“ fertig schreiben.

Vorher geniesse ich noch ein Drink. Zusammen mit meiner Frau, die zwischendurch in ihr Buch vertieft ist. Das herbstliche Licht erhellt ihr Gesicht. Meine Gedanken schweifen ab.

So what, ich habe dieses Irland gefunden! Das reale Irland, das romantische Irland und mein „irisches Ich“. Es war keine Reise um die Welt, sondern nur eine Reise auf diese seltsame, kuriose und wunderschöne Insel. In der Vielfalt der Menschen und ihren farbigen Häuser habe ich hier inzwischen eine andere Art von Toleranz und Freiheit kennengelernt. Ein paar Stunden Irland, meine Seele ist befreit vom Schatten des Alltags. Und es löst mein Hang zum Perfektionismus auf – schnell erkenne ich wieder, dass auch krumm gebaute Dächer vor Regen schützen, man mit einem rostigen Fiesta ans Ziel kommt und eine schrecklich bunt-gestreifte Jacke vor dem Wind schützt.

Die erste Reise nach Irland hatte mir erst zu Hause die Augen geöffnet. Das Land, die Menschen und die Kultur nachträglich spüren lassen. Gezeigt, dass ich nicht nur durch Irland gerast war, sondern auch durch mein eigenes Ich – getrieben nach einer unerfüllbaren Erwartung, welche ich selber schwammig definiert hatte.

Die Sehnsucht nach diesem Irland wurde grösser und ich kehrte auf die grüne Insel zurück. Seit dem sind wir immer wieder nach Irland – vor allem in den Süd-Westen – gekommen. Haben hier ein Teil unserer Ferien verbracht. Wird es uns heute zu viel im Alltag, dann steigen wir einfach ein paar Tage aus und kommen hierher, um Kraft zu tanken, Gedanken zu fassen.

In der Reise von 1989 finde ich heute für vieles den Ursprung. Hier auf der grünen Insel ist mir irgendwann der „Groschen“ gefallen, dass mein Leben grundsätzlich von meiner Art des Denkens bestimmt wird, ich der Schöpfer meiner Erwartungen und Gedanken bin. Offen zu bleiben um sich Situationen anzupassen, Alternativen auszuloten. Nicht darauf zu warten, dass etwas auf mich zukommt, sondern selbst auf ein Ziel hinzuarbeiten.

Diese Irland-Reise hat mich vom herumreisenden, besuchenden Tourist zu einem Wanderer, zu einem sehenden Besucher gemacht. Es brauchte Kraft für mich zu erkennen, dass mein Glück nicht darin liegt, jedes Land dieser Welt zu bereisen. Sondern die Orte, die mich berührten, wiederzusehen. Die Schönheiten in der Einfachheit, wie auch in der Wiederholung zu finden. In der Reise die Zeit zu haben sich selber neu zu entdecken, sich zu reflektieren.
Fast hätte ich dieses Irland nicht gefunden. Im gesamten Leben zählen wenige Augenblicke. So war es eine sehr gute Idee meiner Frau eine Reise hierher zu unternehmen.

Dieser Post ist im Zusammenhang mit dem “Projekt 360: Um die Welt, zu Dir selbst” entstanden. Igor von 7Kontinente hat viele Blogger aufgerufen, über eine Reise in ein bestimmtes Land, welches eine persönliche Veränderung im Leben hervorbrachte, zu schreiben. Eine Reise, die zu einer Selbstfindung führte, unabhängig in welcher Grösse. Viele Blogger haben sich “ihr” Land reserviert, man kann wirklich sehr gespannt sein auf diese Berichte.
Weitere Informationen etwas über die Hintergründe findest Du hier.
Baltimore, 25. Oktober 2017
P.S. Auch der Post “Das Bild und die 1000 Worte”ist auf Initiative von Igor entstanden.

[…] Diese basieren doch auf einige Jahre „Genuss-Erfahrung“ und gehen zurück als ich in 1990er Jahre meinen ersten Irish Whiskey versuchte: ein […]
[…] Aufgabe habe ich diesmal mitgenommen. Diesen verflixten Post „Eine Reise, die mich zu Hause begriff“ für das „Projekt 360: Um die Welt, zu Dir selbst“ fertig zu stellen. Quasi an dem Ort, […]
[…] Blog. Zudem konnte ich das schlechte Wetter während den Ferien nutzen um meine Geschichte „Eine Reise, die mich zu Hause begriff“ fertig zu schreiben. Mehr darüber findest Du am […]
Michael, was für ein grossartiger Beitrag! Wow! Die Geschichte dahinter ist unglaublich schön und berührend, wie Reisen manchmal einfach eine Verdauungszeit brauchen, um sie wirklich realisieren zu können. Um sie wirken zu lassen. Besonders die Zeitsprünge von damals und jetzt. Wundervoll!
“…dass mein Leben grundsätzlich von meiner Art des Denkens bestimmt wird, ich der Schöpfer meiner Erwartungen und Gedanken bin…” Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Vielen herzlichen Dank, dass du immer wieder bei meinem Projekt mitmachst. Ich weiss das enorm zu schätzen. Alles Gute, Igor
Hallo Igor, ganz herzlichen Dank für das tolle Feedback. Freut mich sehr. Allerdings war es gar nicht so einfach, eigene Gefühle so in einen Post rein zu bringen. Aber ich habe es gerne gemacht. Und dann noch für einen meiner “Liebling-Blogs”! Tolle Sache & Liebe Grüsse Michael
[…] Irland: Michael von Beers & Beans […]
Sehr lesenswert. Und “dass auch krumm gebaute Dächer vor Regen schützen, man mit einem rostigen Fiesta ans Ziel kommt und eine schrecklich bunt-gestreifte Jacke vor dem Wind schützt” zeigt, dass man manchmal einfach seinen Blickwinkel ändern muss.
Grüßle Bernd
Stimmt – den Blickwinkel kann man selber ändern. Danke für das Feedback und bitte entschuldige meine etwas späte Antwort, aber im ländlichen Süd-Westen von Irland waren die Auswirkungen von Hurrikan Ophelia mit Strom- und Internetausfällen noch bis zu meiner Abreise spürbar. Was zu einer angenehmen Entschleunigung geführt hat … Lg, Michael
“Im gesamten Leben zählen wenige Augenblicke.” – Das ist einer dieser prägnanten starken Sätze, denen man beim Besuch dieses Blogs immer wieder begegnen darf. Er klingt zuerst irritierend, aber genau so ist es: Kleinigkeiten, kurze Momente können eine ganze Biografie bestimmen oder ihr eine neue Richtung geben. Jede Reise kann auch eine Reise zu sich selbst werden. Toller Beitrag!
LG Franz
Hallo Franz, die Auswirkung von Hurrikan Ophelia mit Strom- und Internetausfällen waren in der Gegend rund um Skibbereen/Irland bis zum Schluss meines Aufenhalts immer noch spürbar. Daher kommt meine Antwort erst jetzt. Diesen Post habe ich im Zusammenhang von Igor’s Aufruf von 7Kontinente geschrieben. Allerdings kamen mir dann doch Zweifel auf, ob dieser Post unter dem Thema “Um die Welt, zu Dir selbst” nicht zu persönlich wird, allenfalls zu viel von mir Preis gebe. Aus diesem Grund ist mir Dein Kommentar sehr wichtig, zeigt dass es auch mal etwas persönlicher sein darf. Schauen, Fotografieren sowie das entstandene Bild kommentieren ist von diesem Standpunkt aus gesehen, dann doch etwas “ungefährlicher”. Herzlichen Dank & Lg, Michael